Du wirst gehen. Du willst nicht gehen. Willst deine
Mutter und die kleinen Geschwister nicht verlassen. Du kannst sie doch in all
dem Elend und in all den Gefahren nicht alleine lassen. Du wirst gehen. Dein
Vater und deine zwei Brüder wurden erschossen. Du bist jetzt der älteste Mann
in deiner Familie. Du kannst jetzt nicht gehen. Doch du wirst gehen. Du bist
gerade sechzehn Jahre alt geworden. Ein Kind noch, doch alt genug, um von einer
der Milizen an die Waffe gezwungen zu werden. Sie kreisen seit Tagen um euer Haus.
Deine Mutter hat sie schon mehrmals von der Türschwelle weg gejagt. Du darfst
das Haus nicht mehr verlassen. Deine Mutter hat Angst. Seit Jahren hat sie
Angst, um ihren Mann, die Kinder, um dich. Du willst nicht gehen. Du wirst
gehen. Sie weint, sie schreit, sie fleht, sie bittet. Deine Mutter liegt vor
dir auf den Knien und bettelt dich an, dich in Sicherheit zu bringen. Sie sagt,
dass alles besser sei für sie, wenn sie nur keine Angst mehr haben müsse, dass
du tot geschossen wirst oder andere Menschen tot schießen musst. Du willst
nicht gehen. Sie weint, sie fleht, sie bittet. Sie hat alles Entbehrliche auf
dem Schwarzmarkt verkauft. So hast du vielleicht eine kleine Chance, bis über
die Grenzen und auf ein Schiff zu kommen. Diese klitzekleine Chance, die doch
so viel größer ist als jene des Hierbleibens. Du willst nicht gehen. Du wirst
gehen. Weil du den Schmerz deiner Mutter nicht mehr aushalten kannst. Weil dein
Gehen ihre einzige Hoffnung in ihrem Leben sein wird. Ihre einzige Möglichkeit
zum Überleben ist diese Hoffnung. Weil sie ihr Kraft gibt. Sagt sie. Weil das
Wissen, dass du leben wirst, ihr Leben am Leben erhalten wird. Du willst nicht
gehen. Du wirst gehen. Es wird dir dein Herz brechen und deine Seele in tausend
Stücke zerreißen. Aber ihr Herz wird dadurch noch eine Weile schlagen können.
Du wirst gehen.
Keine Kommentare:
Kommentar veröffentlichen